„In Afghanistan ging es nie um Demokratie und Frauenrechte“

Linken-Vorsitzende Janine Wissler sieht Deutschland in der Pflicht und in der Lage, nach dem Versagen der Bundesregierung in Sachen Afghanistan Flüchtlinge aufzunehmen. Wir sprachen mit ihr in Suhl.

Alle sind sich einig: Der Afghanistan-Militäreinsatz ist komplett gescheitert. Die Linke war von Anfang an dagegen. Hand aufs Herz: Ohne Intervention damals wären Taliban längst fest im Sattel.

Die Taliban waren ja vor 20 Jahren in Afghanistan an der Macht. Ich befürchte nur, dass sie heute stärker sind als je zuvor. Vor 20 Jahren begann der Einsatz der Nato-Truppen und der Aufbau einer afghanische Armee, deren 300 000 Soldaten jetzt gegen die Taliban gar nicht gekämpft haben. Der Westen, so befürchte ich, hat eine Armee ausgebildet und mit Kriegsgerät ausgerüstet, die die Herrschaft der Taliban verteidigen wird. Diese Situation ist absolut dramatisch. Der Krieg in Afghanistan hat nichts besser gemacht. Dass die Taliban auf dem Vormarsch sind, ist ja nicht erst in den letzten Monaten so. In den letzten Jahren haben die Taliban immer mehr an Einfluss zurückgewonnen. Die humanitäre Situation in Afghanistan ist eine Katastrophe und viele Menschen leiden unter den Taliban und unter der furchtbaren humanitären Situation im Land.

Dass die Taliban ohne Widerstand von Armee und Bevölkerung durchgekommen sind, kann auch ein Indiz dafür sein, dass sie von der Mehrheit der Afghanen gar nicht als das schlimme Schicksal empfunden werden, als das wir sie sehen ...

Ich befürchte, dass viele in der Bevölkerung sehr müde sind von Kriegen und Auseinandersetzungen. Und ja, es gibt offensichtlich eine gewisse Unterstützung für die Taliban. Aber ebenso gibt es viele Menschen, die in den letzten Jahren für Frauenrechte gekämpft, sich für Menschenrechte engagiert haben.

Die soziale und humanitäre Situation der Menschen und die Sicherheit im Land haben sich nicht verbessert, sondern massiv verschlechtert in den letzten Jahren. Es gibt so viele zivile Tote, so viel Terror, die Versorgungslage ist schlecht. Viele Menschen haben eben nicht gesehen, dass sich durch die Besatzung der westlichen Truppen unterm Strich und nachhaltig etwas zum Besseren verändert hätte. Deswegen brauchen wir zivile Konfliktlösungen. Wenn man all die Milliarden, die in das Militär geflossen sind, für zivilen Aufbau ausgegeben hätte, für Entwicklung und Zusammenarbeit, hätte man viel mehr bewirken können. Allein der Bundeswehreinsatz hat 12,5 Milliarden Euro gekostet.

Die Bundesregierung steht nun massiv unter Kritik. Ihr Parteifreund Gregor Gysi fordert sogar den Rücktritt. Aber hat sich nicht die ganze Welt ebenso geirrt?

Es sind sehr viele Fehler gemacht worden. Nach Afghanistan ist man ja nicht einmarschiert, weil die Demokratie oder Frauenrechte in Gefahr waren. Wenn das der Fall wäre, müsste man in viele Länder dieser Welt einmarschieren, und man dürfte Länder wie Saudi-Arabien nicht mit Waffen beliefern, wie das bis vor Kurzem der Fall war. Man ist in Afghanistan einmarschiert infolge des 11. Septembers. Es ging um die vermeintliche Terrorismusbekämpfung, es ging um die Vergeltung für diesen Anschlag, und dann hat man immer wieder neue Rechtfertigungen für diesen Einsatz gefunden. Klar ist, wenn Staaten ihre Armeen schicken, geht es immer um Einflusssphären, um Macht, um Rohstoffe, auch in Afghanistan ging es nie um Demokratie und Frauenrechte. Der Einsatz war falsch, weil die ganze Militärlogik falsch ist. Es sind dadurch viele Menschen ums Leben gekommen und viele sind jetzt akut gefährdet.

Die Bundesregierung wusste, dass die Bundeswehr abzieht, sie hatte ewig lange Zeit, die gefährdeten Menschen zu evakuieren. Etwa die, die für die Bundeswehr gearbeitet haben, die man einfach im Stich gelassen hat. Stattdessen wurden Material und Getränkevorräte ausgeflogen. Wie absurd ist das? Bis vor ein paar Monaten hatte man alles Gerät dort, Helikopter, Soldaten. Die Verwundbaren, die Zivilisten, die Frauen, die Ortskräfte, die hätte man ausfliegen müssen. Und dann am Ende das schwere Gerät und die Soldaten. Aber stattdessen haben sich US-Amerikaner und Deutsche einfach vom Acker gemacht.

Außenminister Heiko Maas beteuert aber, man habe schnell gehandelt, sobald der Ernst der Lage bekannt war.

Es wurden enorme bürokratische Hürden für die Ausreisewilligen aufgebaut. Meine Befürchtung ist, die Bundesregierung hat auf Zeit gespielt. Sie müssen doch gesehen haben, welche Gefahr da bestand. Aber vor der Bundestagswahl wollte man keine Migrationsdebatte. Und das gefährdet nun Menschenleben. Es werden viele Menschen nicht mehr rauskommen.

Aber die Flüchtlingsdebatte ist längst da. Droht uns nun wirklich eine Wiederholung von 2015?

Es werden Menschen flüchten, aber für viele ist es zu spät. Sie werden nicht über die Landgrenzen flüchten können, sie werden nicht ausgeflogen. Ich befürchte, dass es am Ende nur einige Zehntausende sind, die es überhaupt noch schaffen, das Land zu verlassen. Und dieses „2015 darf sich nicht wiederholen“ – was heißt denn das? 2015 sind Menschen auch vor einem Krieg geflohen. Natürlich ist es ein Gebot der Menschlichkeit, Humanität zu zeigen und deswegen muss man da klar Flagge zeigen.

Gerade hier in diesem Wahlkreis, wo die CDU den rechten Verschwörungsideologen aufgestellt hat, muss man sehr deutlich machen, dass es Solidarität gibt. Jeder zweite Deutsche war ab 2015 in irgendeiner Form in der Flüchtlingshilfe engagiert. Die Solidarität war groß. Darauf muss man aufbauen. Natürlich hat Deutschland jetzt eine Verpflichtung zu helfen. Man darf die Menschen nicht ihrem Schicksal überlassen. Wir müssen versuchen, so viele wie möglich zu retten.

Interview: Markus Ermert